2020/KL/2 Demonstrationsfreiheit schützen - Keine Experimente mit Grundrechten!

Status:
Zurückgezogen

Das Versammlungsrecht und damit auch das Recht auf freie Meinungsäußerung und öffentlichen Protest ist eines der höchsten und elementarsten Güter unserer Demokratie.

Kritisch sehen wir es, wenn genau dieses Grundrecht zum Objekt von „predictive policing“werden soll. Aktuell wird von dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, in Kooperation mit der TU Kaiserslautern, der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, diversen französischen Partnern und privaten Unternehmen, ein Projekt unter dem Titel „Organized Pedestrian Movement in Public Spaces“, kurz „OPMoPS“ durchgeführt.

Die Zielsetzung dieses Projekts ist wie folgt veröffentlicht worden:

„Das Vorhaben erarbeitet eine digitale Entscheidungshilfe, um Großveranstaltungen sicherer zu gestalten. Soziale Interaktionen und gruppenspezifische Verhaltensweisen werden mit neuesten soziologischen Modellen durch mathematische Simulationen abgebildet. Diese werden permanent mit der realen Situation verglichen, die mittels aktueller Videodaten erhoben wird. Eine dreidimensionale Visualisierungssoftware analysiert das Geschehen in Echtzeit, errechnet Situationsprognosen und leitet Empfehlungen beispielsweise zu Personaleinsatz, Routenführung und Notfallplanung ab. Rechtliche Aspekte fließen von Beginn an in die Entscheidungsfindung ein und stellen die Angemessenheit der Handlungsoptionen sicher.“

Die Motivation, Durchführung und Zielsetzung dieser Studie sehen wir aus verschiedenen Gründen kritisch.

Auch wenn die Motivation des Projekts zunächst einleuchtet, eine effizientere Ressourcenplanung der Polizei und eine angemessene Reaktion auf veränderte Sicherheitslagen keinesfalls schlecht sind, sollen hier eindeutig Freiheitsrechte zugunsten vermeintlich höherer Sicherheit eingeschränkt werden.

Betrachtet man die dürftigen Informationen, die sich zu dem Projekt finden lassen, so wird schnell klar, dass es sich bei dem Projekt um eine weitere Aufrüstung der Polizei mit Mitteln zur umfassenden Überwachung von Demonstrationen handelt.

Diese Aufrüstung geht einher mit einer impliziten Ausweitung der Befugnisse der Polizei. Schon in der Vergangenheit gab es häufig Diskussionen um das anlasslose Filmen von, bis dato friedlichen, Demonstrationen durch die Polizei. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2009 entschieden, dass solche anlasslosen Videobeobachtungen unzulässig sind. Ebenso ist bereits die Bereithaltung von Kameras für unzulässig erklärt worden, solange keine strafbaren Handlungen begangen wurden, da sie Einschüchterungswirkungen erzeugen können. Kameras schränken die Demonstrationsfreiheit ein, da beispielsweise Teilnehmer*innen ihr Demonstrationsrecht nicht wahrnehmen, wenn sie befürchten müssen, behördlich registriert und verfolgt zu werden. Gefilmt werden dürfen Demos deshalb nur, wenn konkrete Anhaltspunkte auf eine Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung hindeuten.

Der Leitgedanke der Studie ist, auf Basis umfassender Videoüberwachung die Entscheidung eben erst zu treffen, ob eine solche Gefährdung vorliegt. Somit wird unweigerlich auch gefilmt, wenn keine strafbaren Handlungen begangen werden und keine Gefährdung öffentlicher Sicherheit besteht. Das widerspricht der Unschuldsvermutung und das Projekt torpediert dadurch bereits in seiner grundlegenden Motivation die Rechtsprechung des BVerfG. Wir Jusos finden jedoch eben diese Rechtsprechung und die Urteile zur Stärkung der Demonstrationsfreiheit wichtig, da für uns in diesem Fall gilt: Im Zweifel für die Freiheit.

Neben der bloßen Einschüchterungswirkung auf Demo-Teilnehmer*innen, bedeutet die Einrichtung einer umfassenden Videoüberwachung gesamter Demonstrationen auch eine erhebliche Missbrauchsgefahr. Gerade in Zeiten, wo Umfragen eine nicht-demokratische Partei, die sogenannte Alternative, in Teilen Deutschlands als stärkste Kraft sehen ist es fahrlässig, solche Überwachungsinfrastrukturen auszubauen, die im Zweifelsfall von faschistischen Regierungen gegen unliebsame Proteste und Meinungskundgebungen eingesetzt werden können. Wir wollen nicht, dass unter dem Deckmantel der vermeintlichen Erhöhung der Sicherheit ein weiteres Schlupfloch geschaffen wird, Grundrechte, wie das der freien Meinungsäußerung und das der Demonstrationsfreiheit einzuschränken. Wir sehen die Gefahr, dass die Studie dazu führt,  Demonstrationen durch Überwachung und Lenkung in ihrer Freiheit einzuschränken.

Generell sehen wir die Polizei nicht als neutrale Akteurin im Demogeschehen. Deshalb darf sie, sofern Videoaufzeichnungen angefertigt werden, nicht den alleinigen Zugriff auf diese Daten haben. In diesem Fall soll das Material auch zur Verfügung stehen, um unabhängig einsatztaktisches Fehlverhalten und Polizeigewalt untersuchen und verfolgen zu können. Ebenso müssen die Empfehlungen und Ergebnisse der Software zumindest insofern publik gemacht werden, dass nachvollzogen werden kann, wann sich die Polizei entschieden hat, die Empfehlungen der Software zu befolgen oder zu ignorieren.

Die Software, welche entwickelt werden soll, wird auf einer bestimmten Art von Algorithmen basieren. Basis dieser Algorithmen sind meist Rational-Choice-Theorien. Diese sind in der Wissenschaft umstritten und zeigen bei anderen Ermittlungsprogrammen, die ebenfalls dem “predictive policing” zuzuordnen sind und aktuell bereits in der Praxis eingesetzt werden erschreckend geringe Trefferraten und Genauigkeit. Solche Algorithmen sehen wir deshalb sehr kritisch.

Gerade im Kontext des polizeilichen Arbeitens sind aus angeblichen Sicherheitsgründen die Implementierungen und Parameter dieser Algorithmen nicht bekannt, da man sonst durch Nachbildung oder direkte Nutzung eben jener Algorithmen polizeiliches Handeln selbst ebenfalls vorhersagen könnte. Das bedeutet aber auch, dass im Nachhinein nicht sauber begründet werden kann, warum bestimmte Entscheidungen wie getroffen wurden, da der Entscheidungsapparat nicht auf komplexer menschlicher Abwägung und Erfahrung basiert, die Verantwortliche im Zweifel zur Begründung transparent machen müssen, sondern Entscheidungen durch eine fest programmierte Blackbox getroffen werden. Für die Bürger*innen ist so beispielsweise nicht nachvollziehbar, ob diesen Algorithmen rassistische, juristisch nicht tragbare, die Unschuldsvermutung missachtende und gegenüber politische/aktivistischen Gruppierungen vorurteilsbehaftete Parameter zu Grunde liegen. Fehlentscheidungen können nur schwerlich analysiert und mit Konsequenzen geahndet werden.

Für uns ist klar: Technik ist fehlbar! Algorithmen können individuelle, situationsangepasste, menschliche Entscheidungen und Bewertungen nicht ersetzen. Die Parameter der Software werden nur einen Bruchteil dessen abbilden können, was Menschen in komplexen Situationen in ihre Entscheidungen einfließen lassen. Einmal mehr bei dem hochsensiblen polizeilichen Arbeiten, welches oft Extremsituationen ausgesetzt ist, sowie Humanität und Verstand erfordert. Genau aber an dieser Fähigkeit hapert es bei Maschinen und künstlicher Intelligenz.

Ebenso sind natürlich auch menschliche Entscheidungen und Handlungen selbst fehlerbehaftet. Jedoch wirkt sich auch dieser Aspekt hier drastischer aus, da eine absichtliche oder unabsichtliche Manipulation der Software und ihrer Parameter durch deren Intransparenz in der Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar ist und somit ungünstige und falsche Entscheidungen der Software angerechnet werden und keine Konsequenzen für eventuell unprofessionell oder gar böswillig handelnde Polizist*innen haben. Vor dem Hintergrund des Bekanntseins und Bekanntwerdens zunehmender rechtsextremistischer Gesinnung von Polizeien und Behörden ist das in unseren Augen eine große Gefahr.

Insgesamt ist die Arbeit dieses Projekts sehr undurchsichtig und es ist nicht klar welche konkreten Studien und Untersuchungen als Basis zu diesem Projekt dienen.

Einzelne Studien werden aktuell in Kooperation mit diversen privaten Dienstleistern durchgeführt. In der offiziellen Beschreibung wird erklärt, dass die Erkenntnis auch später im wirtschaftlichen Bereich genutzt werden sollen. Hier ist kritisch zu sehen, welche kommerziellen Gründe bestehen, sich an diesem Forschungsprojekt, gerade weil es sich um so ein sensibles und zu schützendes Thema wie das Versammlungsrecht handelt, zu beteiligen. Außerdem ist fraglich, ob private Dienstleister überhaupt den Datenschutz gewährleisten können. Im Rahmen der Studie werden sehr viele persönliche Angaben/Daten gesammelt wie u.a. auch Videomaterial. Das sichere Speichern von solch sensiblen Daten ist sehr teuer und lohnt sich meist für private Dienstleister nicht. Eine Offenlegung der Datenschutzbemühungen ist bislang nicht erfolgt.

Die kleine Stadt Kandel, welche seit über einem Jahr von rechten Demonstrationen aufgesucht wird, ist jüngst zum Forschungsobjekt dieses Projekts geworden.

Student*innen und andere  Teilnehmer*innen der rechten Demonstration, sowie Teilnehmer*innen der linken Demonstration im Verlauf dieser Demonstrationen mittels Interviews zu befragen. Dieses Vorhaben war weder mit der Demonstrationsleitung abgesprochen, noch erwünscht. Auch auf Nachfrage wurde keine Transparenz über Zweck und Ziel dieser Befragungen geschaffen. Auffällig ist das Auftreten der Interviewer*innen, welches immer kurz vor und nach polizeilich ausgelösten Stresssituationen, erfolgt. Offen bleibt die Frage, ob es hier einen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Strategien der Behörden (Deeskalation/Repression) bei verschiedenen Demos und der Durchführung der Studie gibt. Vorstellbar wäre, dass künstlich „Stressszenarien“ erzeugt wurden, um Reaktionen der Menschenmenge zu untersuchen. Eine Aufklärung ist bislang nicht erfolgt. Diese fordern wir dringend, von Seiten der Polizei, der TU Kaiserslautern und dem Innenministerium des Landes Rheinland-Pfalz.

Abschließend fassen wir zusammen und fordern:

  • Den Abbruch der Studie
  • Transparenz und Aufklärung über bisher geleistete Forschung (Methoden, Ziele, Datenschutz)
  • Transparenz und Aufklärung über die Zusammenhänge zwischen dem Forschungsprojekt und bisher stattgefundenen Demonstrationen, v.a. in Kandel, insbesondere in Hinblick auf die dabei verfolgten Einsatzstrategien der Polizei sowie Auflagen und Agieren zuständiger Behörden
  • Öffentliche Finanzierung von Studien, die auf Totalüberwachung von Demonstrationen abzielen ist auch zukünftig zu unterbinden, da dies eine Unverhältnismäßigkeit und Freiheitseinschränkung darstellt
  • Falls das Projekt weitergeführt werden sollte darf dies keinesfalls Auswirkungen auf Planung einer Einsatztaktik oder Behördenvorgaben für Versammlungen haben.
  • Falls zukünftige Demonstrationen weiterhin zum Forschungsobjekt dieses Projekts werden sollten, muss die Demoleitung die Forschungsgruppe bitten dürfen, die Demo zu verlassen. Handeln sie zuwider kann von einer groben Störung der Ordnung der Demonstration ausgegangen werden und die Polizei muss diese im Zweifelsfall entfernen – auch trotz eines vermeintlichen Interessenkonflikts (da die Forschung der Polizei dienlich ist).
  • Statt einer anlasslosen Videoüberwachung von Demonstrationen durch die Polizei fordern wir, dass ausschließlich gefilmt wird, wenn tatsächlich Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht.
  • Werden auf einer Demonstration Videoaufnahmen durch die Polizei oder Behörden angefertigt, so dürfen diese nicht nur einseitig der eventuellen Strafverfolgung gegenüber Demonstrant*innen und damit der Beweisführung im Sinne der Polizei dienen, sondern müssen auch für die Verfolgung von Polizeigewalt und Willkür Anwält*innen
  • und unabhängigen Kontrollparteien zugänglich gemacht werden.
  • Findet eine Software zur Entscheidungshilfe für Polizeieinsätze auf Demos Anwendung, dann muss dieser Einsatz transparent gemacht werden und eventuelle Vorhersagen und Analyseergebnisse der Software veröffentlicht werden, damit über Fehlentscheidungen der Software und Abweichung in der tatsächlichen Ausführung des Polizeieinsatzes klarheit besteht.
  • Die im Rahmen der Studie, zu entwickelnde Software, darf nicht dazu führen Verantwortung für polizeitaktische Entscheidungen in der Öffentlichkeit einer Software zuzuschreiben.
Empfehlung der Antragskommission:
Ablehnung